Am besten stellt man es wohl so dar, wie Hans Magnus Enzensberger
es im Vorwort zur Fotoreportage von René Burri: "Die Deutschen"
(1957 - 1964), Schirmer und Mosel, hochpräzise formuliert hat:
"(...)Wir gehören zwei Teilen eines Ganzen an, das nicht existiert;
zwei Teilen, von denen jeder leugnet, Teil zu sein, und jeder auftritt
im Namen des Ganzen und als wäre er ganz.
Das Ganze, nicht mehr vorhanden, ist somit zugleich halbiert und
gedoppelt. Dieser Zustand gilt zugleich als vorläufig und als definitiv:
das Provisorium ist unantastbar. Jeder Teil spricht dem anderen
Existenz oder Existenzberechtigung ab. Beide Teile sind sich in
allen Punkten uneinig, außer in einem: dass es darauf ankomme,
einander in allen Punkten zu widersprechen. (...)"
Oder man beschreibt es so wie Edgar Hilsenrath in seiner Sammlung
von kleinen Grotesken unter dem Titel: "Zibulsky", Claassen 1983.
In dem Text "Deutsch-deutsches Gespräch" begegnen sich zwei Männer
in einem so bezeichneten "Niemandsland". Als sie sich einander vorstellen,
erfahren sie, dass sie beide Zibulsky heißen (und was nicht erwähnt wird:
dass sie beide dieselbe Sprache sprechen). Während der eine im Zentrum
Westberlins am Kurfürstendamm wohnt, lebt der andere im östlichen
Zentrum am Alexanderplatz. Einer der Zibulskys fragt nun den anderen:
"Würden Sie mich totschießen?" Der Andere darauf: "Nur auf Befehl."
1974 zog ich nach Berlin. In die Stadt, die man damals oft als "Insel"
bezeichnete, obwohl sie nicht von Wasser umgeben war. In den
westlichen Teil von Berlin also, der im Osten lag. Mindestens 170 km
weit weg von jenem Deutschland, zu dem sich die Bevölkerung West-
Berlins zugehörig fühlte.
Umschlossen war die Teilstadt wie eine Insel von einem anderen
politischen System. Die "Deutsche Demokratische Republik",
wie sich der Staat selbst nannte, war ein Teil des zerbrochenen Landes.
Es wollte aber nicht Teil sein, sondern ein "Neues Deutschland", wie die
wichtigste Propaganda-Zeitung der DDR hieß. Und dieses Deutschland
verlangte, dass jenes Berlin (West) ebenfalls ein unabhängiger, eigener
Teil, also gewissermaßen ein drittes Deutschland sein solle.
In mancher Hinsicht war es das auch, weil Berlin offiziell von den
Alliierten verwaltet wurde, den Siegermächten des 2. Weltkrieges.
Und so ermöglichte mir der Umzug nach Berlin, dass ich nicht zum
Wehrdienst in die Bundeswehr eingezogen werden konnte. Daher
hätte ich im "Befehlsfall" einen fiktiven oder realen Jürgen Junker
aus dem Ostteil des Landes nicht erschießen müssen.
Klar. Dieses "Neue Deutschland" versuchte sich der gemeinsamen
Geschichte zu entledigen. Es wollte sich selbst vom Faschismus
und der deutschen Schuld freisprechen. Niemand wollte für den
Genozid an den Juden verantwortlich sein. Angenehmer war es
zu behaupten, dass alle Menschen der DDR verfolgte Kommunisten
gewesen waren. Selbst nur Opfer also. Da musste es doch jedem
einleuchten, dass es gar keine Faschisten geben konnte. In der
DDR! Im "richtigen" Bewusstsein, dem Sozialismus.
Für sich selbst reklamierte die DDR damit in gewisser Weise
eine "Stunde Null", die man selbstredend dem anderen Teil
des Landes absprach. Die Täter, die Faschisten, waren aus
Sicht der DDR doch alle "drüben". Im kapitalistischen Teil
Deutschlands. Man war überzeugt, dass sie überall saßen.
In der Justiz und der Bürokratie. Bis hinauf in die Regierung.
Sicher. Viele mögen es geschafft haben, unberechtigt einen
„Persilschein“ zu bekommen: Ein Papier, ausgestellt von
den Alliierten, das dem Inhaber bescheinigte, dass seine
Gesinnung frei von nationalsozialistischem Gedankengut sei.
Doch dass die Bundesrepublik faschistisch sei, war mit
Sicherheit falsch. Im Gegenteil. Im Westen Deutschlands
blühte unter der Fürsorge der Alliierten die Demokratie
wohl zum ersten Mal in Deutschland auf. Und das mit
einer Lockerheit und Freude. Mit Kaugummi, Schokolade,
Kaffee und „Seiden“-strümpfen von den amerikanischen
Gis.Und auf der politischen Ebene mit dem Marshall-
Plan.
Eine neue Zeit war angebrochen. Hüben wie drüben.
Doch in der sowjetischen Besatzungszone herrschte nicht
der Swing, sondern Zwang und Repression. Russland
als Besatzungsmacht forderte Entschädigung für die
brandschatzenden deutschen Truppen. Sie plünderten
ihre sozialistischen Brüder aus. So bauten sie etwa 2000
der wichtigsten und bestausgerüsteten Fabriken ab,
um sie in der Sowjetunion wieder aufzubauen. Sie trugen
die Hälfte der Eisenbahnschienen ab und transportierten
sie nach Russland. Und als sie nichts Geeignetes zum
Abtransport mehr fanden, transferierten sie Geld aus
den laufenden Gewinnen der Unternehmen.
Nein,wirklich. In der DDR versuchte die Besatzungsmacht
nicht, die Menschen von den neuen Zeiten zu begeistern.
Edgar Hilsenrath spricht als Zibulsky mit seinem fiktiven Sohn.
Der „weiß nicht, wohin“, und will „einfach nicht aufwachen“. Er stellt
Fragen wie: „Wozu lebe ich eigentlich?“ Und aus dem Gespräch
muss man schließen, dass er drogenabhängig ist. Vater Zibulsky
hat schließlich eine Idee, woran es dem Jungen mangeln könnte:
Der Mensch müsse an etwas glauben. Als er so alt gewesen sei,
wie sein Junge jetzt, da hätten sie strahlende Augen gehabt, weil sie
an Volk und Heimat geglaubt hätten. Und an den Führer. Vor allem
an den Führer. „An den Führer, der Gaskammern baute?“, fragt
der Junge. „An den Führer, der ganze Völker vernichtete?“
„Ja, mein Junge“, antwortet Vater Zibulsky. „Besonders an den.“
Am internationalen "Tag der Arbeit" reiste ich einmal in die DDR,
um Fotos bei der dortigen Maidemonstration aufzunehmen. Wie
ich es gewohnt war, lief ich seitlich der Demonstrationsrichtung
entgegen, um die Menschen von vorne aufnehmen zu können.
Doch es dauerte nicht lange, bis mich ein Ordner unsanft in die
Menschenmenge drückte. Als Entgegnung auf meinen Protest
bekam ich zu hören: "Es gibt nur eine Richtung!"
Und die Menschenmenge umschloss mich und schob mich
zum Beweis unentrinnbar mit sich.
Schwarz-Weiß-Denken ist so schön bequem. Eigentlich muss man
gar nicht denken. Denn alles ist völlig klar. Was nicht sein darf, das
gibt es auch nicht. Wenn Probleme auftreten, dann sind die anderen
Schuld. In diesem Fall die Kapitalisten.
Details? Komplexität? Diversität? Widersprüchliches? Gibt es nicht.
Man musste sich auch nicht der Frage stellen, ob man mit den
Methoden der Stasi, des "Staatssicherheitsdienstes" der DDR,
nicht unmittelbar in der menschenverachtenden, diktatorischen
Tradition der Gestapo, der "Geheimen Staatspolizei" im Faschismus
stand. Man musste nicht, denn man hatte die Macht. Und das
auf ewig zementierte moralische Recht der Verfolgten
des Nationalsozialistischen Reiches.
Doch machen wir uns nichts vor: Das Schwarz-Weiß-Denken
kommt überall vor. Auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten
bricht es immer wieder hervor. Als gäbe es unsichtbare Rhizome,
in denen die emotionale Gewalt gespeichert wird, die meist mit
dieser Denkungsart untrennbar verknüpft ist. In den guten Zeiten
schlummert es unterirdisch. Sobald die Lage schwierig wird, ist es da.
Wenn die Ressourcen knapp werden und die Verteilungskämpfe
beginnen. Wenn Demagogen die irrationalen Ängste der Menschen
aufwecken. Dann wird das Denken in Kategorien von Gut oder Böse,
Freund oder Feind mächtiger als das differenzierte Denken.
Weil es sich sehr leicht in Aktion ummünzen lässt. Im Gegensatz
zu all dem „Wenn“ und „Aber“ der abwägenden, zögerlichen,
differenzierten Nachdenklichkeit, die zu Recht Angst hat, etwas
unerkannt Wertvolles zu zerstören.
Jürgen Kuczynski, einer der bedeutendsten Historiker und Wirtschafts-
wissenschaftler der DDR, hat 1983 einen "Dialog mit meinem Urenkel"
geschrieben. Irgendwann in der Zukunft, wenn die ganze Welt endlich
kommunistisch geworden sein wird, beantwortet er dessen fiktive Fragen
über die unzulänglichen Anfänge der DDR. Für die schlechte Versorgung
der Bürger waren nach dieser Denkungsart nicht die eigenen Fehler
verantwortlich. Leider wurde der zutiefst friedliche, sozialistische Staat,
die DDR, vom bewaffneten Imperialismus gezwungen, wertvolle
Ressourcen zu vergeuden. Für ein friedliches Heer und für teure
Waffen zur gerechten Abwehr. Und er als angeblicher Wissenschaftler
verteidigte Lügen der Herrschenden damit, dass die Avantgarde einen
besseren Einblick in die historischen Notwendigkeiten habe.
Das Volk werde das erst im Nachhinein verstehen. So hoffte er wohl
auf "Vergebung seiner Sünden" durch seine Ur-Ur-Enkel.
Nur dass der Zweck nicht alle Mittel heiligt. Und dass im schlimmsten Fall
bereits der Zweck verlogen ist. Nicht nur der "real existierende Sozialismus",
schon die theoretische Idee von der "Diktatur des Proletariats" war
keine Demokratie, sondern eben die Herrschaft derer, die sich selbst
für "wissend" halten. Konsequent gedacht waren alle, die es wagten,
auch nur andere Gedanken zu haben und zu äußern, Feinde des
Sozialismus, die mit allen Mitteln bekämpft werden mussten.
Die noch unter Folter "Unbelehrbaren" bis hin zum gewaltsamen Tod.
Heute gibt es wieder Kreise, die sich als "das" (wissende) "Volk"
stilisieren, das von Politikern und Journalisten belogen wird.
Sei dieses Gefühl tatsächlich empfunden oder aus taktischem
Kalkül zum Machtgewinn nur behauptet: Aus dieser angeblichen
Verlogenheit der Demokraten leitet man die Unrechtmäßigkeit
der Demokratie ab. Zugleich reklamiert man für sich, "den"
Willen "des" Volkes zu vertreten, auch wenn man nur 10%
der Stimmen bekommt.
Diese Brandstifter schüren bei den Menschen die Angst vor
der Zukunft und versprechen einfache Lösungen. Sie geben
der Weltoffenheit die Schuld und befeuern den Hass auf alle,
die anders aussehen, denen es gut geht oder die anders denken.
Von ihren Anhängern verlangen sie dabei keine Anstrengun:
Keine Fortbildung, keine zusätzliche Ausbildung, keine
Mobilität. Es reicht schon, ein Ur-Deutscher zu sein, damit
man alle Rechte hat und allen anderen jedes Recht absprechen
kann.
Dabei geben sie ihren Anhängern auch noch das Gefühl einer
moralischen Überlegenheit. Die Radikalsten fühlen sich dann
zu allen Gesetzesbrüchen berechtigt. Im Namen des Schutzes
eines angeblich "reinen" Volkes.
Auch in der DDR gab es sogenannte „Vertragsarbeiter“.
Nur kamen sie weder aus Italien, noch aus Spanien
oder der Türkei. Sie kamen aus dem sozialistischen
Bruderland Vietnam. Doch trotz der offiziell beschworenen
„internationalen Solidarität“ mussten die Menschen
aus Vietnam in Wohnheimen leben, die klar von der
DDR-Bevölkerung abgetrennt waren. Sie erhielten nur
eine auf 2 bis maximal 6 Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis.
Der Nachzug von Familienangehörigen war unmöglich
und wenn eine Vietnamesin schwanger wurde, musste sie
in ihr Heimatland zurückkehren.
Wenn heute also lauthals wieder eine „Reinheit“ des Volkes
verlangt wird, dann haben sich vermutlich die Liebhaber
des Nationalsozialismus mit den Menschenrechts-
Verächtern der DDR vereint.
Sie ignorieren dabei, dass es „das deutsche Volk“
niemals gab, weil die Geschichte der Menschheit
seit frühesten vorgeschichtlichen Zeiten immer
aus Wanderung und Mischung bestand. Das
beweisen die Genanalysen von paläontologischen
Funden der Frühmenschen, bei denen Gensequenzen
der Neandertaler nachweisbar sind. Aus der neueren
Zeit kennen wir die Wanderungsbewegungen von
Germanen, Hunnen, Goten, Wikingern oder Langobarden.
Von Franken, Burgunden, Angeln, Sachsen oder Jüten.
Und nicht zuletzt hinterließen die Kriege, von den
Erbfolgekriegen über den Dreißigjährigen Krieg
bis hin zum 2. Weltkrieg ein Heer von "Mischlingen".
Der karibische Schriftsteller Derek Walcott, der 1992
den Literaturnobelpreis erhielt, hat in seinem Werk
auch das versucht zu verarbeiten: Seine eigene
Existenz der Tatsache zu verdanken, dass ein
weißer Herrenmensch eine schwarze Sklavin
vergewaltigte.
Wie viel Migration, wie viele Kriege, wie viel Gewalt
und wie viele Vergewaltigungen mögen über die
Jahrhunderte hinweg die gemischte Gut-Böse-Existenz
von jedem einzelnen von uns hervorgebracht haben?
Unser „Volk“ ist bunt seit Jahrtausenden und es ist
längst nachgewiesen, dass der Austausch der Gene
zwischen Fremden Sprünge in der Evolution möglich
gemacht und Vorteile im Überlebenskampf gebracht hat.
Auch durch Vergewaltigung. Aber besser und schöner
durch die Liebe, die alle Fremdheit überwindet.
Die Links-Terroristen um Andreas Bader und Ulrike Meinhof,
die sich selbst als "Rote-Armee-Fraktion" bezeichneten,
sind auf diesem Weg weit vorausgegangen: Sich selbst als
die Wissenden, die Avantgarde, die moralisch Überlegenen
zu sehen. Sie gingen dabei so weit, sich selbst das Recht
zuzusprechen, einzelne Repräsentanten des verhassten
„Systems“ zu töten.
Andere Vorläufer haben sich meist brandschatzend und
mordend über fremde Ethnien hergemacht: So die Europäer,
die die Schwarzafrikaner als Affenmenschen ohne Kultur
betrachteten und versklavten. Jene Eroberer, die sämtliche
Ureinwohner des Kontinents Amerika als grausame Wilde
betrachteten, die ausgerottet werden müssten. Dabei
stahlen und zerstörten die Europäer als Eindringlinge
den Ureinwohnern die angestammte Lebensgrundlage.
Die Buren mit ihrem Überlegenheitsgefühl über die farbigen
Menschen in Südafrika. Die Deutschen mit ihrer Behauptung,
Arier, also überlegene Menschen, zu sein und alle anderen,
die nicht zum imaginierten "Volkskörper" gehörten,
vertreiben, ausrauben und ausrotten zu dürfen. Und last,
not least: Die Serben gegen die Kroaten, sowie die Hutu
gegen die Tutzi.
Es ist immer das gleiche Prinzip: Da wird ein völlig homogenes
"WIR" behauptet. Deren Mitglieder seien nur gut und rein.
Und es wird behauptet, dass diese "WIR"-Gemeinschaft bedroht
wird von einem völlig homogenen "DIE DA", von jenen anderen,
die alle nur gleich böse seien, kulturlose, brutale Verbrecher.
Oder gar keine Menschen, sondern Wesen irgendwo
zwischen Affe und Unwert. Das bereitet dann den
braunen Boden für die konsequente Tat: Weil man
in dieser Gedankenwelt jene Fremden und Feinde
ausrotten muss.
Unverhohlen bekennt sich Andre Poggenburg, zu dieser „Tradition“.
Er sitzt im Bundesvorstand der Partei AFD und ist zugleich
Landesvorsitzender und Fraktionsvorsitzender der AFD in
Sachsen-Anhalt. Er äußerte sich in einer Debatte im Parlament
von Sachsen-Anhalt klar und unmissverständlich: "linksextreme
Lumpen müssen von deutschen Hochschulen verbannt werden."
Er fügte hinzu, "statt eines Studienplatzes sollten die Studenten
lieber praktischer Arbeit zugeführt werden". Als im Plenarsaal
daraufhin lautstarke Empörung ausbrach, forderte Poggenburg,
an alle Fraktionen gewandt: "Helfen sie dabei, die Wucherung
am deutschen Volkskörper endgültig loszuwerden."
Zum Volk gehört eben nur, wen diese selbsternannten
Volksversteher akzeptieren. Jedenfalls wohl nur die,
die so denken und sprechen wie sie selbst. Nur die
Klischee-Deutschen.
Darüber hinaus weiß man nie, wen sie als nächstes
zum Geschwür am Volkskörper erklären werden.
Doch zurück zum Jahr 1974, als ich sorglos nach Berlin kam:
Ohne die Angst, von einem Jürgen Junker aus der DDR erschossen
zu werden. In die geteilte Stadt, aus der 1961, nach dem Mauerbau,
viele Unternehmen und Menschen geflohen waren.
Aber wir Westberliner Bürger wurden von den Alliierten geschützt.
Auch wenn die sich inzwischen uneinig waren. Also nicht mehr "alliiert".
Gekommen waren sie als Besatzungsmächte, damals, am Ende des Krieges.
Kurze Zeit nachdem sie die Stadt in Schutt und Asche gelegt hatten.
Weil "wir" Deutschen zuvor Millionen Menschen massakriert hatten.
Frontstadt. Das war ein weiteres Etikett, das man Berlin damals anheftete.
Weil sich die dünne Grenze zwischen den Teilen der Stadt in den frühen
Nachkriegsjahren zu einer Grenze der beiden politischen Systeme und
schließlich durch den Mauerbau 1961 in die sichtbare Welt-Grenze
zwischen West und Ost entwickelt hatte. In die scharfe Trennlinie
zwischen kommunistischer und kapitalistischer Welt. So schaute bald
die ganze Welt auf diese Stadt. Auf diesen vorgeschobenen Posten der
Demokratie. Auf den Pfahl im Fleisch des kommunistischen Reiches.
Doch für manche Linke waren die Alliierten weiterhin ungeliebte Besatzer.
Aus der naiven Vorstellung heraus, dass ein ewiger Friede erreichbar sei,
wenn die eigene Seite alle Waffen abschaffe? "Stell dir vor, es ist Krieg
und keiner geht hin." Das war ein weit verbreiteter Spruch. Oder, um es
mit John Lennon zu sagen: "Imagine all the people, sharing all the world."
Als wären die Deserteure nicht bei jedem Krieg als Verräter verfolgt und
hingerichtet worden.
Es lässt aber in mir die Frage aufkommen, wie groß die Zahl derer war,
die mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ mutig für Demokratie und Freiheit
durch die Straßen der DDR zog.
Egal, ob es die Mehrheit war, oder die Minderheit: Es scheint, dass es
Menschen gibt, die in der DDR und ihrem Schwarz-Weiß-Denken kleben
geblieben sind. Denen die Demokratie unverdient - und möglicherweise
ungewollt - in den Schoß gefallen ist. Die den Pluralismus weder verstanden,
noch gelernt haben. Die ihn offenbar gar nicht verstehen wollen. Die sich
jetzt berufen fühlen, "das deutsche Volk" zu retten, indem sie es rein
halten wollen, so wie es die Organe der DDR versucht haben und zuvor
in weit schlimmerem Ausmaß die Nationalsozialisten.
In der Wendezeit begegnete mir in der DDR eine Metapher, ein Bonmot:
„Wenn sich der Wind der Veränderung erhebt, bauen die einen Mauern.
Die anderen bauen Windmühlen.“
Warum verstehen die Diktatoren des Denkens nicht, dass Leben
Veränderung bedeutet? Stetigen Wandel! Und dass die lebendige
Natur auf dieser Erde die Vielfalt ist? Die Vielfalt der Millionen
Arten von Flora und Fauna! Und dass Leben nur in Form eines
stetigen Wandels überleben kann: Durch eine ständige genetische
Anpassung und somit durch Veränderung!
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Verurteilung
des Pegida-Gründers Lutz Bachmann. Ein Zitat aus der „Sächsischen Zeitung“
vom 03.05.2016 beschreibt den Topos des vermeintlichen „Volkskörpers“:
„Bachmanns Problem ist sein langes Vorstrafenregister. Richter Hlavka
verliest nur die letzten sieben Einträge, darunter eine Einbruchserie 1998,
Kokainhandel 2010, Trunkenheit im Verkehr 2011, falsche Verdächtigung 2012
und Unterhaltspflichtverletzung 2015.“ Die „Dresdner Neuesten Nachrichten“
schreiben am 03. Mai 2016, aktualisiert am 04. Mai 2016: „Zu Lasten des
Angeklagten wertete der Richter dessen langes Vorstrafenregister, das
16 Einträge umfasst.“
Wie bitte? Das soll ein typischer Vertreter des moralisch integren,
guten „Volkskörpers“ sein?
Nein! Da wünsche ich mir Jerome Boateng als Nachbarn. Und Navid Kermani,
Rafik Schami, Cem Özdemir und Bahman Nirumand ebenso. Nicht aber die
Bachmanns, die Gaulands oder Poggenburgs, die Höckes und die von Storchs.
Wenn man sich aber im Berlin der 70er und 80er Jahre
mitten hinein begab in den Alltag, dann war es wie immer:
Die große Politik verschwand und es öffnete sich der Blick
für das ganz normale Leben. Und das findet eben immer
eine Möglichkeit um zu blühen. Noch in der kleinsten Nische.
Noch innerhalb der größten Grausamkeit wie der eines KZ
zum Beispiel. Selbst dort wächst die Hoffnung und blühen
die Träume. Oft bis zur allerletzten desillusionierenden Minute.
Im Westteil der Stadt dagegen blühte nicht die Hoffnung. Hier
lebte die Gewissheit im direkten Schatten der Mauer. Jener Mauer,
die tödlich war für alle, die den östlichen Teil der Stadt und des
Landes nach Westen verlassen wollten. Für uns in West-Berlin
hatten Willi Brandt und Egon Bahr den archimedischen Punkt
gefunden. "Wandel durch Annäherung" war das Schlagwort
ihres politischen Pragmatismus im ideologischen Minenfeld.
Und die Westberliner Bevölkerung machte es sich gemütlich.
Unmittelbar im Schatten der Mauer lebten wir unsere friedliche
Idylle. Uns galt der Todesstreifen nicht. Und wir hatten kein
Bedürfnis "rüber zu machen", wie es von der anderen Seite aus
genannt wurde.
Lou Reed brachte es auf den West-Punkt. Er lebte in einer
Wohngemeinschaft zusammen mit David Bowie. Im Jahr 1973
brachten sie die Platte "Berlin" heraus. Im Titelsong hieß es:
"In Berlin, by the wall - you were five foot ten inches tall
It was very nice - candlelight and Dubonnet on ice.
We were in a small cafe - you could hear the guitars play
It was very nice - it was paradise."
Einer meiner Freunde, der Architekt, Landschaftsplaner und Maler
Werner Brunner, malte ein Bild vom deutschen Michel, der oben auf
der Mauer balanciert. Ich glaube mich zu erinnern: mit einem bunten,
clownesken Schirm in der Hand. Rechts und links von der Mauer wuchs
sehr viel Gras. Vermutlich über die ganze Geschichte. Auf beiden Seiten
sah man das Geschützrohr eines im Gras versteckten Panzers. Auf einem
der Geschützrohre war "SU" zu lesen, was für Sowjetunion stehen sollte.
Auf dem anderen spiegelbildlich "US", was natürlich für die Vereinigten
Staaten von Amerika stand.
Werner Brunner verstand sich damals als Maoist. "Warschauer Pakt"
und "Nato" waren für ihn nur zwei Seiten derselben Medaille. Was
zum antagonistischen Denken der Zeit gehörte. Vielen erschienen
da die "Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung", die sich als rote
"Mao-Bibel" in den Jacken vieler westdeutscher Linker befanden,
als besserer Weg.
Doch wenn Mao die Herrschaft über - sagen wir -Westberlin
bekommen hätte, hätte er meinem intellektuellen Werner Brunner
sicherlich Leinwand und Pinsel abnehmen lassen. Stattdessen hätte
man ihn und andere wohl zum Frondienst aufs Land abkommandiert.
Oder gleich als Teil der verhassten "Elite" getötet.
Ja! Genau! Haargenau dieselbe Denkungsart, die sich heute
wieder erheben will: Aus dem Bodensatz der blutigsten Zeiten
der Menschheits-Geschichte.
In einem fiktiven Brief wandte sich Zibulsky, alias Edgar Hilsenrath, an
den Generalsekretär der Vereinten Nationen und bedauerte, dass er
leider nicht kommen könne, weil er in Berlin lebe und wegen der Mauer
mit seinem Auto nicht herauskomme. Er fahre immer im Kreis herum.
1987 nahm ich meine Kamera, schwang mich aufs Fahrrad und fuhr
einmal ringsherum. Immer auf dem Innenkreis der Westberliner Mauer,
die - andersherum betrachtet - außen lag. Als Außenmauer um die DDR.
Als "Schutzwall gegen den Imperialismus". So nannten es die Mächtigen
der Einheitspartei. Eine Mauer zum Schutz ihrer Bürger vor dem bösen,
kapitalistischen Westen.
Aber warum waren die Waffen der Grenzsoldaten dann nicht
nach außen gerichtet? Warum nach innen?
Gegen die eigenen Bürger?
Stellen wir uns vor, der Vatikan baute eine Mauer. Außen herum um die
Vatikanstadt. Zum Schutz der Kurie und aller Kardinäle. Damit seine
Würdenträger nicht mit den Verlockungen der Welt konfrontiert wären.
Damit sie sich auf "das Göttliche" konzentrieren könnten. Vielleicht auch,
damit das mit dem Kindesmissbrauch endlich aufhört?
Ich weiß nicht, ob das ein halbwegs treffendes Bild ist? Wahrscheinlich,
dass ein solcher Vergleich völlig unmöglich ist.
Ein Mann aus der DDR - wir dürfen vermuten, dass es sich um
Herrn Zibulsky handelt - ist verhaftet worden und wird von einem
„Bademeister“ des Staatssicherheitsdienstes verhört. Dieser wirft
dem Mann vor, er habe „abhauen“ wollen. „Einfach so über die
Staatsgrenze.“ Zibulsky gesteht ohne Umschweife und erzählt,
er habe im Meer baden wollen. Der „Bademeister“ erinnert ihn
an die Ostsee. Aber Zibulsky meint, er habe eben im Mittelmeer
baden wollen. Der „Bademeister“ legt ihm nahe, dass die Propaganda
des Westens ihn wohl verwirrt habe. Zibulsky greift den Gedanken auf
und erklärt, dass es das Mittelmeer wohl gar nicht gebe. Es komme
nur im Fernsehen vor und im Kino. „Genau“, sagt der Bademeister
begeistert, „jetzt haben sie es kapiert“. Zibulsky ergänzt: „Und auf
der Landkarte.“
Obwohl Westberlin von der Mauer eingeschlossen war, konnten
wir Westberliner Bürger die Stadt verlassen. Wir durften in den
Westen fahren, durften die DDR durchqueren, durften sogar
deren Städte, Landschaften und Menschen besuchen. Die Menschen
außen dagegen, die Bürger der DDR, konnten ihren Staat nicht nach
Westen verlassen, nicht einmal in das von ihren eigenen Mauern
eingeschlossene Westberlin.
1988 wollten wir einen Eindruck von der DDR-Provinz gewinnen. Wir
wählten die Stadt Brandenburg und beantragten ein Touristenvisum,
das auch von den Behörden der DDR bewilligt wurde. Der DDR-Grenzer,
der uns kontrollierte, fragte in verständnislosem Ton, was wir denn dort
sehen wollten. Und er fügte noch hinzu, es sei doch überhaupt nichts los,
dort. Als wir in der Stadt ankamen, verstanden wir, was er gemeint hatte.
Brandenburg war das Aschenputtel hinter dem Ofen. Ostberlin dagegen,
die einzige Stadt, die wir bisher gesehen hatten, war die Braut, die uns
im goldenen Kleid becirct hatte. Aber für uns war genau das hochgradig
interessant.
Alles war grau und trist. Nein. Nicht nur trist. Es war viel schlimmer.
Die Häuser waren halb verfallen. Die Straßen so uneben, dass sie kaum
befahrbar waren. Ich lief mit meiner Kamera ziellos umher und nahm auf,
was ich sah. Plötzlich hörte ich, wie sich zwei Menschen im Vorbeigehen
unterhielten. „Da“, sagte einer. „da machen sie wieder Fotos. Dann singen
sie in der Zeitung ein Loblied auf die neue Straßenbeleuchtung. Aber dass
die Häuser verfallen, davon schreiben sie nichts.“
Hier war es umgekehrt wie im Märchen vom Aschenputtel. Das wahre Wesen
der DDR war nicht das der schönen Braut im Abendkleid. Die DDR hatte
alle geerbten Schätze verbrannt und lebte nur noch in der Asche.
Diese Realität war für uns vor dem Besuch der Stadt Brandenburg
völlig unvorstellbar gewesen.