Sozialdokumentarische Fotografie im West-Berlin der 70er

 

 

In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts existierte noch keine Digitalfotografie.

In den Kreisen der Links-Alternativen Autorenfotografen bevorzugte man zudem

eine klassische schwarz/weiß-Fotografie. Man behauptete, dass sie in der Lage sei,

die Essenz der Verhältnisse offenzulegen, anstatt sich von der farbenfrohen Oberfläche

ablenken zu lassen.

 

 

Fußballfans von Hertha BSC, die eher rechtsgerichtet waren, Berlin 1980, und linksgerichtete, (ästhetisch) vermummte Demonstranten, Berlin 1981
Fußballfans von Hertha BSC, die eher rechtsgerichtet waren, Berlin 1980, und linksgerichtete, (ästhetisch) vermummte Demonstranten, Berlin 1981

 

Inhaltlich (und das bedeutete in der frühen Nach-68er-Zeit: politisch) orientierte

man sich an den sozialdokumentarischen Arbeiten der US-amerikanischen

Farm-Security-Administration aus der Zeit der großen Depression.

Man verehrte die "street-photography" internationaler "Stars" wie Robert Frank,

Bruce Davidson und Henri Cartier-Bresson. Man war aber auch begeistert

von den Porträts eher skurriler Menschen, wie sie Diane Arbus vorlegte. 

 

Für mich als Student der Soziologie war das Konzept und der analytische Blick

des Portraitfotografen August Sander eine historisch wichtige Wegmarke,

an der ich mich stärker orientierte als andere. August Sander hatte zwar

konkrete Menschen portraitiert, doch er erwähnte selbst bei Prominenten

nicht die Namen. Denn er betrachtete jedes Individuum als Vertreter

eines (Berufs-)Standes. Und in jeweils zwölf Bildern (pro Mappe)

wollte er das Typische eines jeden Standes erfassen. Schon Alfred Döblin

hatte Sanders Mappenwerk als "Bildsoziologie" bezeichnet.

 

Doch während August Sander mit seiner Großbildkamera (Glasnegative

in der Größe 13 x 18 cm) hin-"gestellte" Aufnahmen produzieren musste,

ermöglichte mir die Entwicklung der Kleinbildfotografie lebendigere

(und somit möglicherweise authentischere?) Bilder. Ich konnte die

Menschen in ihrer Alltags-Hektik und Alltags-Ermüdung beobachten, 

wie der Eckensteher Nante. Die Menschen und die Szenen, die mir

interessant erschienen, "kopierte" ich "un-aufgestellt" und sozusagen

direkt und objektiv auf mein Fotopapier.

 

 

Demonstration gegen das "drohende" Vermummungsverbot, West-Berlin
Demonstration gegen das "drohende" Vermummungsverbot, West-Berlin
Im Musical "Linie 1" im Grips-Theater wurden die Wilmersdorfer Witwen dargestellt, die gut bezahlten Krieger-Witwen. Zwei von ihnen im Cafe Kranzler?
Im Musical "Linie 1" im Grips-Theater wurden die Wilmersdorfer Witwen dargestellt, die gut bezahlten Krieger-Witwen. Zwei von ihnen im Cafe Kranzler?

 

Dabei stellte ich fest, dass sich die Gesellschaft seit August Sander

in vielen Belangen entscheidend verändert hatte. Höhere Bildung war

allen zugänglich geworden und ermöglichte (auch mir) den Aufstieg

in einen (im Sanderschen Sinn) anderen Berufs-"Stand" (sofern man

davon überhaupt noch sprechen konnte). Wohl damit einhergehend,

hatte die Bedeutung von Familienbanden und -traditionen abgenommen.

 

Auch das erfuhr ich an mir selbst, als ich zusammen mit meiner Geliebten

autonom entschied, dass wir heiraten und als Familiennamen nicht

meinen (männlichen), sondern ihren (weiblichen) wählten. Ich hatte

im angebrochenen Zeitalter der Individualität kein Problem damit,

während mein Vater es bis zu seinem Tod nicht akzeptieren konnte,

dass ich seinen Familiennamen (& gefühlt somit die ganze Familie)

untergehen ließ.

 

Seine Familie wurzelte in Westfalen. Man war Werkzeugmacher,

Schmied, Metzger. Allenfalls Bürokaufmann. Und in der kleinen

Gemeinde gab es keine Familie sonst mit diesem Namen.

Ich dagegen zog in eine Großstadt, wo ich niemanden und wo mich

niemand kannte. Ich begann Soziologie zu studieren, doch niemand

konnte sich vorstellen, was das war und was daraus werden sollte -

auch ich nicht. Als ich dann das Telefonbuch aufschlug, stieß ich

unter "Junker" auf Dutzende Einträge. Doch nicht nur das: außer mir

gab es sieben Menschen mit exakt dem Namen "Jürgen Junker".

 

 

Frau Schläfke am Grab ihres Sohnes und ihres Mannes, Berlin-Wedding, 1982
Frau Schläfke am Grab ihres Sohnes und ihres Mannes, Berlin-Wedding, 1982
Punk im besetzten Haus, Berlin-Tiergarten 1981
Punk im besetzten Haus, Berlin-Tiergarten 1981

 

 

Gibt es eine "bessere" Möglichkeit, um die Entwurzelung und

die Anonymität des großstädtischen Lebens zu erfahren? Und

ein Gefühl dafür zu bekommen, wie groß die Umwälzungen

in diesen wenigen Jahrzehnten seit August Sander waren?

 

Meine erste große, serielle Arbeit hatte folgerichtig als Thema:

 

UnterwegS - Menschen in der Berliner U- und S-Bahn

 

Meine Frau und ich stellten der Serie damals diesen Text zur Seite:

 

Der Fotograf überwindet das Verbot der BVG, in der U-Bahn zu fotografieren

und die Schranke der Distanz. Monatelang fährt er U-Bahn, drückt tausendemal

auf den Auslöser - und erstellt auch ein Porträt dieser Stadt, in der er lebt.

All die Negativbeschreibungen städtischen Zusamenlebens zeigen diese Fotos:

Man spürt die Anonymität, die Einsamkeit inmitten von Menschen und

das gegenseitige Ignorieren.

 

Die U-Bahn ist zur Kulisse für die verschiedensten Gruppen und Schichten geworden:

Die Gesamtbilder entlang der einzelnen U-Bahn-Linien entsprechen den Stadtteilen,

die sie verbinden und durchfahren. Je weiter die »grüne Linie« Richtung Schlesisches Tor fährt,

desto bestimmender wird türkisch in der U-Bahn. Auf den Stationen der »roten Linie«

um den Thielplatz überwiegt Studentisches. Nach Geschäftsschluss bestimmen

die Aktentaschen von Angestellten, die zerfurchten Hände von Arbeitern,

die Plastiktüten von berufstätigen Hausfrauen das Bild im Wagen. Vor einer

Großdemo quellen ganze Züge von Demonstranten über. Die letzte U-Bahn

transportiert Müde, oft Angetrunkene nach Hause. Mädchen und junge Frauen

steigen nur in Wagen, in denen sie nicht mit Männern allein sind.

 

 

Die vorgelegten Fotos halten Momente fest, in denen sich die persönliche

und soziale Situation von Menschen spiegelt, die in Berlin leben. Sie porträtieren

Personen, lassen deren Beruf, Familienstand und Freizeitbeschäftigung ahnen

und charakterisieren die Einzelnen: Manche verkrampfen sich um die Stange,

verkriechen sich hinter ihrer Zeitung. Andere nehmen breitbeinig zwei Sitze ein.

Eitle kontrollieren ihre Wirkung in der gegenüberliegenden Wagenscheibe.

 

Gleichzeitig bilden die Fotos ein soziales Dokument über (Rand-) Gruppenprobleme:

Ein Ausländer drückt sich schüchtern in die Ecke; ein Verhalten, das er

in seiner Heimat sicher nicht zeigen würde. Eine ungewöhnliche alte Frau

kann nur bei Fremden so auffallen. Dass sie Missfallen erregt, spiegelt die Werte

der Bevölkerung wieder.

 

Auch der Fotograf stellt sich in den Fotos dar: Die Isolation seiner Modelle macht traurig.

Die fotografierten Szenen zeigen seine Ambivalenz zwischen Sehnsucht und Erschrecken.

 

Jürgen Junker-Rösch und Heidi Rösch, 1982

 

 

 

 

Mit dieser Arbeit als Visitenkarte erhielt ich 1983 ein

Stipendium für zeitgenössische Deutsche Fotografie der

"Alfried-Krupp-von-Bohlen-und -Halbach-Stiftung".

Es entstand die serielle Arbeit

 

Paare im Konzert

Das "Zollorchester Berlin" spielt Blasmusik an der Krummen Lanke
Das "Zollorchester Berlin" spielt Blasmusik an der Krummen Lanke