In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts existierte noch keine Digitalfotografie.
In den Kreisen der Links-Alternativen Autorenfotografen bevorzugte man zudem
eine klassische schwarz/weiß-Fotografie. Man behauptete, dass sie in der Lage sei,
die Essenz der Verhältnisse offenzulegen, anstatt sich von der farbenfrohen Oberfläche
ablenken zu lassen.
Inhaltlich (und das bedeutete in der frühen Nach-68er-Zeit: politisch) orientierte
man sich an den sozialdokumentarischen Arbeiten der US-amerikanischen
Farm-Security-Administration aus der Zeit der großen Depression.
Man verehrte die "street-photography" internationaler "Stars" wie Robert Frank,
Bruce Davidson und Henri Cartier-Bresson. Man war aber auch begeistert
von den Porträts eher skurriler Menschen, wie sie Diane Arbus vorlegte.
Für mich als Student der Soziologie war das Konzept und der analytische Blick
des Portraitfotografen August Sander eine historisch wichtige Wegmarke,
an der ich mich stärker orientierte als andere. August Sander hatte zwar
konkrete Menschen portraitiert, doch er erwähnte selbst bei Prominenten
nicht die Namen. Denn er betrachtete jedes Individuum als Vertreter
eines (Berufs-)Standes. Und in jeweils zwölf Bildern (pro Mappe)
wollte er das Typische eines jeden Standes erfassen. Schon Alfred Döblin
hatte Sanders Mappenwerk als "Bildsoziologie" bezeichnet.
Doch während August Sander mit seiner Großbildkamera (Glasnegative
in der Größe 13 x 18 cm) hin-"gestellte" Aufnahmen produzieren musste,
ermöglichte mir die Entwicklung der Kleinbildfotografie lebendigere
(und somit möglicherweise authentischere?) Bilder. Ich konnte die
Menschen in ihrer Alltags-Hektik und Alltags-Ermüdung beobachten,
wie der Eckensteher Nante. Die Menschen und die Szenen, die mir
interessant erschienen, "kopierte" ich "un-aufgestellt" und sozusagen
direkt und objektiv auf mein Fotopapier.
Dabei stellte ich fest, dass sich die Gesellschaft seit August Sander
in vielen Belangen entscheidend verändert hatte. Höhere Bildung war
allen zugänglich geworden und ermöglichte (auch mir) den Aufstieg
in einen (im Sanderschen Sinn) anderen Berufs-"Stand" (sofern man
davon überhaupt noch sprechen konnte). Wohl damit einhergehend,
hatte die Bedeutung von Familienbanden und -traditionen abgenommen.
Auch das erfuhr ich an mir selbst, als ich zusammen mit meiner Geliebten
autonom entschied, dass wir heiraten und als Familiennamen nicht
meinen (männlichen), sondern ihren (weiblichen) wählten. Ich hatte
im angebrochenen Zeitalter der Individualität kein Problem damit,
während mein Vater es bis zu seinem Tod nicht akzeptieren konnte,
dass ich seinen Familiennamen (& gefühlt somit die ganze Familie)
untergehen ließ.
Seine Familie wurzelte in Westfalen. Man war Werkzeugmacher,
Schmied, Metzger. Allenfalls Bürokaufmann. Und in der kleinen
Gemeinde gab es keine Familie sonst mit diesem Namen.
Ich dagegen zog in eine Großstadt, wo ich niemanden und wo mich
niemand kannte. Ich begann Soziologie zu studieren, doch niemand
konnte sich vorstellen, was das war und was daraus werden sollte -
auch ich nicht. Als ich dann das Telefonbuch aufschlug, stieß ich
unter "Junker" auf Dutzende Einträge. Doch nicht nur das: außer mir
gab es sieben Menschen mit exakt dem Namen "Jürgen Junker".
Gibt es eine "bessere" Möglichkeit, um die Entwurzelung und
die Anonymität des großstädtischen Lebens zu erfahren? Und
ein Gefühl dafür zu bekommen, wie groß die Umwälzungen
in diesen wenigen Jahrzehnten seit August Sander waren?
Meine erste große, serielle Arbeit hatte folgerichtig als Thema:
Meine Frau und ich stellten der Serie damals diesen Text zur Seite:
Der Fotograf überwindet das Verbot der BVG, in der U-Bahn zu fotografieren
und die Schranke der Distanz. Monatelang fährt er U-Bahn, drückt tausendemal
auf den Auslöser - und erstellt auch ein Porträt dieser Stadt, in der er lebt.
All die Negativbeschreibungen städtischen Zusamenlebens zeigen diese Fotos:
Man spürt die Anonymität, die Einsamkeit inmitten von Menschen und
das gegenseitige Ignorieren.
Die U-Bahn ist zur Kulisse für die verschiedensten Gruppen und Schichten geworden:
Die Gesamtbilder entlang der einzelnen U-Bahn-Linien entsprechen den Stadtteilen,
die sie verbinden und durchfahren. Je weiter die »grüne Linie« Richtung Schlesisches Tor fährt,
desto bestimmender wird türkisch in der U-Bahn. Auf den Stationen der »roten Linie«
um den Thielplatz überwiegt Studentisches. Nach Geschäftsschluss bestimmen
die Aktentaschen von Angestellten, die zerfurchten Hände von Arbeitern,
die Plastiktüten von berufstätigen Hausfrauen das Bild im Wagen. Vor einer
Großdemo quellen ganze Züge von Demonstranten über. Die letzte U-Bahn
transportiert Müde, oft Angetrunkene nach Hause. Mädchen und junge Frauen
steigen
nur in Wagen, in denen sie nicht mit Männern allein sind.
Die vorgelegten Fotos halten Momente fest, in denen sich die persönliche
und soziale Situation von Menschen spiegelt, die in Berlin leben. Sie porträtieren
Personen, lassen deren Beruf, Familienstand und Freizeitbeschäftigung ahnen
und charakterisieren die Einzelnen: Manche verkrampfen sich um die Stange,
verkriechen sich hinter ihrer Zeitung. Andere nehmen breitbeinig zwei Sitze ein.
Eitle
kontrollieren ihre Wirkung in der gegenüberliegenden Wagenscheibe.
Gleichzeitig bilden die Fotos ein soziales Dokument über (Rand-) Gruppenprobleme:
Ein Ausländer drückt sich schüchtern in die Ecke; ein Verhalten, das er
in seiner Heimat sicher nicht zeigen würde. Eine ungewöhnliche alte Frau
kann nur bei Fremden so auffallen. Dass sie Missfallen erregt, spiegelt die Werte
der
Bevölkerung wieder.
Auch der Fotograf stellt sich in den Fotos dar: Die Isolation seiner Modelle macht traurig.
Die
fotografierten Szenen zeigen seine Ambivalenz zwischen Sehnsucht und Erschrecken.
Jürgen Junker-Rösch und Heidi Rösch, 1982
Mit dieser Arbeit als Visitenkarte erhielt ich 1983 ein
Stipendium für zeitgenössische Deutsche Fotografie der
"Alfried-Krupp-von-Bohlen-und -Halbach-Stiftung".
Es entstand die serielle Arbeit